Ein ganz persönliches Projekt

Studierende werkeln in einem Nachkriegshaus in Möhringen

 

Linda Behringer hat es nicht übers Herz gebracht, das Haus ihrer Großeltern im Glashütter Weg einfach abzureißen und die Möbel zu entsorgen. Deshalb ermöglicht sie Studierenden, das Haus als Experimentierraum zu nutzen und den alten Möbeln neues Leben einzuhauchen.

 

Was tun mit einem 1952 gebauten Nachkriegshaus, das Oma und Mutter übertragen haben, an dem viele Erinnerungen hängen? Das bis zum Abriss im Frühjahr leer steht? Linda Behringer kam auf die Idee, das Haus ihrer Großeltern und ihrer Mutter als eine Lernplattform für angehende Innenarchitekten der Technischen Hochschule Stuttgart anzubieten. Im Sommer 2021 kam eine Gruppe Professoren, um sich das Haus anzuschauen und die Idee anzuhören. Daraus ist ein enger Kontakt entstanden – und zwei Projekte, die derzeit laufen. Die alten Möbel im Haus durften die Studierenden des Studiengangs Innenarchitektur verwenden, um daraus neue entstehen zu lassen. „Das war mir ganz wichtig, denn ich wollte die alten Möbel meiner Oma nicht einfach auf den Müll schmeißen“, sagt Behringer. „Ich wollte, dass sie wertgeschätzt werden und in neuem Glanz erstrahlen dürfen.“ Im Oktober 2021 kamen dafür 60 Studentinnen der Hochschule in den Glashütter Weg, haben sich in einer langen Schlange vor dem Haus aufgereiht, die Möbel angeschaut, und dann wurde gelost, welches Zweier-Team welches Möbel „upcyceln“ darf. Den Zweck des M.belstücks konnten die Studentinnen komplett verändern: Der Stuhl wird zu einer Garderobe und die alte Schrankwand aus den Sechzigerjahren zu einem Raumteiler, der runterklappbare Likörschrank wird zum Schreibtisch. Mitte Januar haben die Studentinnen in der Hochschule ihre Werke präsentiert. „Das war ein ganz toller und auch emotionaler Moment!“, so Behringer. „Während die Studentin nur ein Möbelstück sieht, hab ich die Erinnerung vor Augen, wie die Oma oder der Opa an der Schrankwand Sü.igkeiten rausholt, am Tisch die Weihnachtsgans verzehrt wird ... Diese Möbel haben mich 43 Jahre lang begleitet. Sie waren immer die gleichen. Meine Oma hätte sich so sehr gefreut, die Ergebnisse zu sehen. Sie schaut bestimmt von oben zu.“

 

Eine Möglichkeit der Trauerbewältigung

 

Das zweite Projekt sind Arbeiten direkt im Haus. Vom Keller bis zum Dachboden wurde jeder Raum unter den Studentinnen aufgeteilt, die dort jetzt zum Beispiel Wände ziehen, Schränke einbauen oder Kunstinstallationen fertigen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. So bekommt das Haus einen neuen Zweck, während es auf den Abriss wartet. Demnächst findet die Abschlusspräsentation der Experimentierräume statt. Die Studentinnen haben sich bei Behringer für die außergewöhnliche Möglichkeit, die ihnen geboten wurde, bedankt. Eine Studentin kam auf Behringer zu, sie hatte die alten Glasaugen der Oma gefunden, die als Teenager eines ihrer Augen verloren hatte. Die Glasaugen waren bei Behringer in Vergessenheit geraten. Sie lagen in der Schrankwand, die der Studentin zugelost wurde. „Sie fragte mich, ob es für mich in Ordnung sei, dass sie die Augen in eine Kunstinstallation einbaut. Ich hab sie daraufhin umarmt und mich bedankt für die schöne Idee.“

 

Für Behringer ist das Projekt auch eine Art der Trauerbewältigung. „Ich suche in dem alten dunklen kalten Haus, das jetzt leer steht, einen Funken Licht. Ich möchte, dass die Freude dahin zurückkehrt.“ Und weiter: „Vielleicht habe ich auch ein schlechtes Gewissen, zu zerstören, was die Großeltern mühselig nach dem Krieg und dann zu Zeiten des Wirtschaftswunders aufgebaut haben. Da komme ich, die Wohlstands- und Erbengeneration, und mache es einfach kaputt, weil es dem modernen Standard nicht entspricht. Früher hat man alles bewahrt und aufgehoben.“ Beide Projekte seien Behringers Art, Danke zu sagen „an das Haus, dafür, dass es meinen Großeltern und meiner Mutter so viele Jahrzehnte ein trautes Heim war“.

 

Von Emily Schwarz

 

(Artikel aus Möhringen Aktuell, KW 05/2022)

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