Ein Zuhause auf Zeit

 

Vor einem Monat sind Natalia G. (42), ihre 18-jährige Tochter Tina, ihre Schwägerin Julia B. (33) und deren Söhne Arsen (14) und Mark (4) nach Möhringen geflüchtet. Während die Männer der beiden in der Ukraine bereit sind, ihre Heimat im Krieg zu verteidigen, geben die Frauen ihr Bestes, in Möhringen Fuß zu fassen. 

 

Vor dem Krieg lebte Natalia G. mit ihrem Mann und ihrer Tochter in einer Stadt im Norden der Ukraine, arbeitete als Beamtin, Tochter Tina studierte Touristik. Eine ganz normale Familie. Am 10. März findet der Alltag der Familie ein jähes Ende. Morgens um 6 Uhr, so erzählt es Natalia G., erschüttern drei, vier große Explosionen ein paar Kilometer von ihrem Wohnhaus entfernt die Erde. Das Haus wackelt, der Himmel wird schwarz, die Erde bebt. Den Rest des Tages verbringt die Familie im Keller des Hauses. Der Schock sitzt tief. Natalia G.s Augen füllen sich mit Tränen, als sie von dem Moment erzählt, der ihr Leben für immer verändert. An Schlaf oder Essen ist nicht mehr zu denken. Sie kontaktiert ihre Schwägerin, Julia B., die im selben Ort wohnt und die mit ihren beiden 14- und vierjährigen Söhnen eine ganze Woche lang im Keller ausharren wird. Die Ehemänner drängen beide Frauen zum Aufbruch. Sie befürchten einen Einmarsch der weißrussischen Armee; die Grenze zu Belarus ist nur 25 Kilometer entfernt. Den Frauen wird klar: Sie müssen raus hier. Die Kinder in Sicherheit bringen. Es ist eine unglaublich mutige Entscheidung: Natalia G. war davor noch nicht ein einziges Mal im Ausland. Sie packen das Nötigste ein, dann machen sich beide Frauen mit ihren drei Kindern auf den Weg. Drei Tage sind sie im Auto unterwegs, durch die Ukraine und Polen und kommen schließlich in Möhringen an. Julia B.s Cousine wohnt hier seit ein paar Jahren, sie vermittelt den beiden eine Bleibe.

 

Nella und Sergei Jussow, die selbst vor 29 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kamen, sie Klavierlehrerin, er Geiger im ersten Stuttgarter Musical „Miss Saigon“ im SI-Centrum, vermieten die leer stehende Wohnung ihres Sohnes in der Kleinknechtstraße an die beiden Frauen und ihre Kinder. Nach der Ankunft habe sich die Unruhe etwas gelegt, erzählt Natalia G. Zwei Wochen später hätten die Albträume der Kinder nachgelassen. Mindestens genauso wertvoll wie die Wohnungsvermietung ist die persönliche Unterstützung, die die Geflüchteten durch das Ehepaar Jussow erfahren, zum Beispiel bei Behördengängen. Die sind nötig, damit es zügig vorangeht. 

 

Beide Frauen möchten so schnell wie möglich Deutsch lernen und arbeiten.

 

Eins ist klar: Längst nicht jeder Geflüchtete hat dieses Glück im Unglück. Wer niemanden vor Ort kennt und dessen erste und einzige Anlaufstelle ein Aufnahmezentrum wie das auf der Landesmesse ist, der ist auf sich gestellt. „Wer in einer großen Unterkunft landet, dem geht es sicherlich erst einmal nicht so gut“, sagt Nella Jussow. Roman Kolodiy, der vor siebenJahren den Verein „Ukrainer in Stuttgart“ gegründet hat, kennt Hunderte dieser Schicksale. Das öffentliche Interesse allerdings habe nach den ersten paar Wochen nachgelassen, sagt er. 

 

Noch einmal zurück in die Kleinknechtstraße. Der vierjährige Mark hat inzwischen einen Platz im Waldorfkindergarten in Möhringen bekommen, der 14-jährige Arsen an der Anne- Frank-Gesamtschule. Die Kinder wollen nicht mehr zurück, erzählen die beiden Mütter. Hier gebe es keinen Luftalarm, sie müssen nicht in den Keller rennen, die Ruhe gefalle ihnen. Natalia G. und Julia B. indes hoffen nur auf eins: dass Frieden einkehrt. Bis es so weit ist, finden sie bei den Jussows ein Zuhause auf Zeit. 

 

Von Emily Schwarz 

 

(Artikel aus Möhringen Aktuell, KW 17/2022)

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