Wendepunkt Frauenhaus

Kriminalstatistik 2020: Starke Zunahme der Fälle häuslicher Gewalt

 

Die vor Kurzem vorgestellte Stuttgarter Kriminalstatistik des vergangenen Jahres brachte die niedrigste Zahl an Straftaten seit zwei Jahrzehnten zutage. Und dennoch: Neben dem Widerstand gegen Einsatzkräfte (wir berichteten) haben die Fälle häuslicher Gewalt stark zugenommen. Wir haben bei den Frauenhäusern Stuttgart und auf den Fildern nachgefragt.

 

Von Daniel Stoll

 

„Coronabedingt blieben die Menschen vermehrt in ihren vier Wänden, ein Ausweichen war oft nicht mehr möglich. Doch bereits in den Jahren zuvor stiegen die Fälle häuslicher Gewalt an, weil die Frauen heute aufgeklärter sind und wissen, dass sie Hilfe erhalten können“, erklärt eine Mitarbeiterin des städtischen Frauenhauses, die namentlich nicht genannt werden möchte. Auch der genaue Standort des Hauses bleibt geheim, um den Bewohnerinnen wie Mitarbeiterinnen den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten. Gleiches gilt für die Frauenhäuser des Vereins Frauen helfen Frauen, von welchen sich eines ebenfalls in der Landeshauptstadt und ein weiteres auf den Fildern befindet.

 

Der beunruhigende stetige Anstieg der Gewalttaten innerhalb der eigenen vier Wände wurde durch die Pandemie noch verschärft: Im Stadtgebiet sind die Fälle häuslicher Gewalt von 811 im Jahr 2019 auf 973 im darauffolgenden Jahr gestiegen – ein immenser Anstieg um 20 Prozent. „Nicht nur, dass die dieses Tatphänomen maßgeblich bestimmenden Delikte, die Körperverletzungen, angestiegen sind, auch die Zunahme von Bedrohungen und Nötigungen, hier aufgeführt unter Straftaten gegen die persönliche Freiheit, zeigt sich im Anstieg der Straftaten der häuslichen Gewalt“, heißt es in der Statistik. Auch bei ebenjenen Straftaten gegen die persönliche Freiheit verzeichnen die Beamten einen starken Anstieg um mehr als 25 Prozent (von 67 auf 84).

 

Bleibe bis zu einem Jahr

 

„Erstaunlicherweise stoßen wir nicht an unsere Kapazitätsgrenzen“, weiß die Sozialarbeiterin des städtischen Frauenhauses. „Wir mussten niemanden abweisen.“ Der Großteil der Schutzsuchenden komme entweder direkt aus Stuttgart oder aus dem Speckgürtel der Großstadt. Dabei seien alle sozialen Schichten vertreten, der Anteil an Migrantinnen betrage etwa die Hälfte. „Derzeit haben wir 15 Frauen und 17 Kinder bei uns.“ Betreut werden sie von insgesamt sechs Pädagoginnen in Teilzeit, allesamt studierte Sozialarbeiterinnen, um den Bewohnerinnen auch in Fragen des Aufenthalts- oder Sorgerechts, beim Verfassen von Anträgen und Ähnlichem zur Seite stehen zu können. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt ein halbes bis ein Jahr, bis eine neue Wohnung gefunden wurde oder auch nur ein bis zwei Monate, wenn die Frauen – nach vorheriger Beratung und Gesprächen – zu ihrem Partner zurückkehren. Die stets voll besetzten insgesamt 32 Plätze verteilen sich auf drei Stockwerke je fünf Zimmer, wobei das vier Jahrzehnte zählende Gebäude mit seinen dementsprechend veralteten Wohnformen längst nicht mehr zeitgemäß ist. „Wir sind schon lange auf der Suche nach einer modernen Alternative mit kleineren Wohneinheiten und guter Anbindung“, erklärt die Pädagogin, die sich seit 25 Jahren im Frauenhaus engagiert.

 

„Wir hatten doppelt so viele telefonische Beratungen wie sonst“, schildert eine Kollegin vom Frauenhaus auf den Fildern die Veränderungen seit Beginn der Pandemie. Im Haus selbst konnten nur sechs Personen aufgenommen werden, 81 mussten an andere Einrichtungen weitervermittelt werden. „Der Aufenthalt bei uns bedeutet für die Frauen den Wendepunkt, ab hier geht es bergauf. Die Entscheidung über ihr weiteres Leben treffen sie selbst, wir beraten und unterstützen sie dabei.“ Eines der drängendsten Probleme dabei ist die auch auf den Fildern vorherrschende Wohnungsnot.

 

Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt schätzt sie als „wahnsinnig hoch“ ein. Ein Rückgang um rund 13 Prozent, wie sie die jetzt vorgestellte Polizeiliche Kriminalstatistik 2020 des Polizeipräsidiums Reutlingen aufführt – das auch für den Landkreis Esslingen zuständig ist –, ist somit mit Vorsicht zu genießen: Denn ein entsprechender Hinweis lautet auch: „Allerdings spiegelt die Statistik nur die angezeigten Fälle wider.“

 

Welche Hilfsangebote es für Opfer häuslicher Gewalt gibt, lesen Sie im unteren Teil.

Was tun bei häuslicher Gewalt? Als häusliche Gewalt wird körperliche, sexuelle, psychische oder wirtschaftliche Gewalt in der Ehe oder Partnerschaft zusammengefasst. Frauenhäuser als soziale Einrichtungen bieten betroffenen Frauen und ihren Kindern vorübergehend eine geschützte Unterkunft und Beratung. In Baden-Württemberg gibt es 44 Einrichtungen dieser Art. Ungefähr die Hälfte der Bewohner sind in der Regel Kinder und Jugendliche.

 

Hier gibt es Hilfe

In Stuttgart gibt es einige Anlaufstellen für Opfer und Täter von häuslicher Gewalt: die Beratungszentren des Sozialund Jugendamts; die Stuttgarter Ordnungspartnerschaft gegen häusliche Gewalt (STOP); das bundesweite Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen unter 08000/116 016; Beratung und Information für Frauen (BIF) des Vereins Frauen helfen Frauen unter 0711/6 49 45 50.

 

Etwa 20 Prozent der Opfer sind Männer. Sie finden unter anderem Hilfe beim Verein Gewaltschutz für Männer – Sozialberatung Stuttgart unter 0711/33 50 87 84.

 

ds

 

(Artikel aus Möhringen Aktuell, KW 13/2021)

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